"Nicht in Berlin, nicht in Köln oder Frankfurt, sondern in einer Stadt mit (damals) weniger als 20.000 Einwohnern trafen Menschen zusammen, die Träume hatten und die Fähigkeit besaßen, Visionen in die Tat umzusetzen"
Thies ist ein Kenner der Geschichte und beschreibt das Leben nach Kriegsende in Offenburg und der Französischen Zone sehr bildhaft und mit vielen kleinen Episoden. Und er legt den Fokus auf den August 1945, in dem Offenburg „vom Ort der Konfrontation mit Frankreich zum Ort der Begegnung“ wurde: „Für mehrere Jahre übernahm es eine unangefochtene Vorreiterrolle beim deutsch-französischen Dialog, bei der Überwindung der Sprachlosigkeit. Nicht in Berlin, nicht in Köln oder Frankfurt, sondern in einer Stadt mit (damals) weniger als 20.000 Einwohnern trafen Menschen zusammen, die Träume hatten und die Fähigkeit besaßen, Visionen in die Tat umzusetzen.“
Eine Schlüsselrolle spielte Jean du Rivau, Jahrgang 1903, Jesuit und Militärgeistlicher, der im Sommer 1945 in Offenburg das Zeitschriftenpaar „Documents/ Dokumente“ initiierte, um Deutsche und Franzosen über Fakten und Verhaltensweisen des anderen zu informieren: „Wir wollen nicht Partei ergreifen, sondern Interessierte mithilfe von Texten in den Stand versetzen, am kommenden Tag miteinander zu reden.“ In den Folgejahren befasste sich die Zeitschrift mit Themen wie Christentum, Politik, NS-Vergangenheit, Literatur und Jugendfragen. 1947 lud Jean du Rivau zum ersten Treffen mit 43 Intellektuellen aus Frankreich und Deutschland nach Lahr ein.
"Offenburg kann an der Vorbildfunktion, die es im deutsch-französischen Verhältnis hatte und hat, festhalten"
Die Kraft des Dialogs zieht sich wie ein roter Faden durch Thies' Buch, in dem prominente Politiker und Intellektuelle ebenso zu Sprache kommen wie das erfolgreiche Offenburger Unternehmerpaar Aenne und Franz Burda oder Karl Heitz, erster Oberbürgermeister der Stadt. Jochen Thies gelingt es, Zusammenhänge zu schaffen und Wissen über Persönlichkeiten, Fakten und Begebenheiten unterhaltsam zu vermitteln. Dabei spannt er einen Bogen vom Vertrag von Verdun (843) bis heute. Er schafft Bewusstsein für die außerordentliche Rolle, die Offenburg aufgrund seiner geografischen Lage und der Offenheit von Menschen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren, für die deutsch-französische Freundschaft gespielt hat. Geschichte kann Inspiration für die Zukunft sein. Und so resümiert Thies: "Offenburg kann – wenn es der Wille seiner Bürger ist – mehr als andere Orte leisten. Es kann an der Vorbildfunktion, die es im deutsch-französischen Verhältnis hatte und hat, festhalten.“
Ich freue mich, wenn Jochen Thies im Sommer zu einer Lesung nach Offenburg kommt.
Jochen Thies, Dr. phil., Jahrgang 1944, studierte Romanistik, Geschichte und Politische Wissenschaft in Freiburg. Er begann seine berufliche Laufbahn in Baden, das für ihn zu einer zweiten Heimat wurde. Thies war Redenschreiber von Bundeskanzler Helmut Schmidt und viele Jahre lang in leitenden Positionen im deutschen Journalismus tätig. Er lebt mit seiner aus Gengenbach stammenden Frau in Berlin.
Jochen Thies: Die Stadt der Versöhnung. Offenburg als Herz der deutsch-französischen Freundschaft. 186 Seiten, 20 Abbildungen, Morstadt Verlag, 25,90 Euro, ISBN 978-3-88571-401-9
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