Heute Abend habe ich mit meinem Freund Raymond E. Waydelich telefoniert. Seit Wochen haben wir uns nicht gesehen. Er lebt mit seiner Frau Rosita in Hindisheim, im Elsass. Es geht ihnen gut, sie sind zuhause. „Alle über 80-Jährigen im Dorf werden vom lokalen Lebensmittelgeschäft und vom Metzger mit Essen beliefert“, sagt er. Freunde stecken die aktuelle Zeitung in seinen Briefkasten. Raymond ist Jahrgang 1938. „Ich habe den Krieg mitgemacht, war in Algerien“, sagt der große elsässische Künstler und Lebenskünstler, „jetzt werden wir auch das überstehen.“
Wir kennen uns seit 30 Jahren, und vor drei Jahren durfte ich ein Buch über ihn und sein Werk konzipieren und schreiben. Wichtiges Thema damals war sein „L'Homme de Frédehof“, der 1978 Beitrag zur Biennale di Venezia war. Er erzählte mir:
„Acht Jahre vor der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl habe ich im französischen Pavillon in Venedig ein Environment präsentiert, wie es in ferner Zukunft von Archäologen entdeckt werden könnte. Umgeben von Arte- und Biofakten saß ein Mann in einem Sessel, der einen spitzen Hut aus Metall über den Kopf gezogen hatte, aus dem in Gesichtshöhe ein Schnabel ragte. Er erinnerte an die Verhüllung von Doktoren, die während Pestepidemien entsprechende Kappen trugen, mit Gras und Blumen ausgestopft, um den Gestank zu mildern. Vermutlich war er einst selbst Archäologe und hat sich vor einer großen Katastrophe in einen Keller zurückgezogen. Ein Radio, Flaschen mit Wein, Blumensamen, Pflänzlinge… alles Mögliche hat er gehortet, was natürlich nach dem Unglück nicht mehr in bestem Zustand war. Aber seine Entdecker fanden eine kleine Inschrift, die darauf verwies, dass der Tote aus der rue Frédéric in Straßburg-Neudorf stammte – und so erhielt er seinen Namen: L'Homme de Frédehof. Heute sitzt er in den Uffizien in Florenz. Und zum traurigen Anlass des katastrophalen Unfalls in Tschernobyl wurde ein Film über meinen Beitrag zur Biennale in Venedig mehrfach im Fernsehen ausgestrahlt.“
Der „L'Homme de Frédehof“ wurde von den Uffizien in Florenz angekauft. Die Gegenwart als Vergangenheit der Zukunft war stets ein zentrales Thema für Raymond. 2015 schrieb ich: Waydelich ist ein Zeitreisender ohne Zeitmaschine und mit seinen Darstellungen so überzeugend, weil die Melange aus Wirklichkeit und Fantasie das Unmögliche im Möglichen zu offenbaren scheint.
Irgendwann nach dem 20. April, an einem schönen Hochsommertag, werden wir ein Fest feiern. Mit Radio und Flaschen mit Wein, und die Blumensamen werden aufgegangen und die Pflänzlinge gewachsen sein ...
Übrigens: Raymond lässt alle seine Freunde grüßen!
Ä großer Kuss
Übrigens: Raymond lässt alle seine Freunde grüßen!
Ä großer Kuss