Freitag, 7. September 2018

Interview mit Architekt Gerhard Lehmann

Dieses Jahr feiern Lehmann Architekten 50 Jahre Bürogründung und 80 Jahre Bürogründer. Aus diesem Anlass führte ich für eine Publikation Interviews mit Gerhard Lehmann (Teil I) und seinen Söhnen Gunnar und Grischa Lehmann (Teil II). Da das Buch nicht zu erwerben ist, hier das interessante Interview über Architekturtendenzen in den vergangenen fünf Jahrzehnten, die Erfolgsstory von Lehmann Architekten und die Freundschaft zum Präsidenten des Deutschen Bundestags, Dr. Wolfgang Schäuble. Teil II folgt.

„Egon Eiermann hat mich am meisten beeinflusst“

Der 9. Februar ist ein besonders Datum für Gerhard Lehmann. Am 9. Februar 1938 wurde er nach drei Schwestern als lang ersehnter Nachfolger eines selbständigen Zimmerermeisters in Berghaupten geboren. Am 9. Februar 1968 gründete er in Gengenbach sein eigenes Architekturbüro. Anlässlich seines 80. Geburtstags und des 50-jährigen Bestehens von „Lehmann Architekten“ treffen wir uns in seinem Büro auf dem Offenburger Kulturforum, für dessen Entwurf er vor 25 Jahren als Gewinner eines international ausgeschriebenen Wettbewerbs hervorging.


Ute Dahmen Wann haben Sie Ihrem Vater verkündet, dass Sie seinen Betrieb nicht übernehmen wollen?

Gerhard Lehmann Das war nicht ich, sondern Professor Hermann Schilli, Gründer der Zimmerermeisterschule in Freiburg und des „Vogtsbauernhofs“. Ich selbst hätte mich das nie getraut. Nach Abschluss der Volksschule in Berghaupten, besuchte ich die Gewerbeschule in Offenburg und absolvierte eine Zimmermannslehre. Mit 18 Jahren ging ich an die Meisterschule, die Professor Schilli leitete. Er verstand meinen Wunsch, Architektur zu studieren und schlug mir vor, die zwei erforderlichen Vorsemester am Staatstechnikum in Karlsruhe zu belegen. Schilli kannte meinen Vater aus der Kriegsgefangenschaft und übernahm es, die Hiobsbotschaft zu überbringen.

UD Sie studierten von 1958 bis 1963 am Staatstechnikum, heute  Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft. Wie ging es nach dem Diplom weiter?

GL Ich trat meine erste Stelle im Architekturbüro von Günther Seemann an und besuchte nebenbei Vorlesungen von Egon Eiermann an der Technischen Hochschule.

UD Eiermann hat die deutsche Architektur der Nachkriegszeit geprägt und war auch als Person ein echter Typ. Wie haben Sie ihn erlebt?

GL Er war ein begnadeter Redner und der Hörsaal stets voll von Studenten verschiedener Fakultäten. Wir lauschten gebannt, wenn er auf die geometrische Strenge und Präzision in der Tradition Ludwig Mies van der Rohes pochte und über seinen Widersacher Hans Scharoun schimpfte, der in Berlin lehrte und bedeutendster Vertreter der organischen Architektur war. „Das ist technisch nicht sauber konstruiert“, kritisierte er. 

UD Gab es neben den Antipoden Eiermann und Scharoun noch weitere bedeutende Architekten?

GL Ja, Sep Ruf in München, der den Kanzlerbungalow für Ludwig Erhard gebaut hat. Aber Egon Eiermann hat mich am meisten beeinflusst. Er hat damals die Deutsche Botschaft in Washington entworfen und den „Langen Eugen“ in Bonn. Gemeinsam planten Ruf und Eiermann den Deutschen Pavillon für die Weltausstellung in Brüssel, der aus acht Bauten bestand, die schwebend durch Stege verbunden waren. Ich habe zu einer sehr interessanten Zeit studiert. 

UD „Nachkriegsmoderne“ wird diese Periode heute genannt. Zu Recht?

GL Absolut. Die Baugeschichte hatte mit dem Barock aufgehört. Der Klassizismus wurde mit Ideologien verknüpft und danach gab es nur noch Historismus und Eklektizismus. Unsere Professoren hatten auf alles einen Hass und radikalisierten sich. Das war sicherlich ein Fehler, denn auch in der Zeit des Nationalsozialismus gab es gute Architektur. Doch viele Lehrer hatten persönliches Leid erfahren und konnten nicht objektiv sein. 

UD Wurde dieser neue Stil als Zeitgeist oder richtungsweisend empfunden?

GL In den 1960ern war noch nicht klar, was sich durchsetzen würde. Egon Eiermann hatte sich intensiv mit dem Werk von Marcel Breuer und Mies van der Rohe beschäftigt und die Architekten auf Studienreisen in den USA kennengelernt. Beide konnten noch eine klassische handwerkliche Ausbildung vorweisen. Das ist vergleichbar mit einem Picasso, der alle seine Schaffensperioden aus einer altmeisterlichen Malweise entwickeln konnte. Eiermanns Erben kannten nur die Moderne und verfügten über kein Fundament. So verwundert es nicht, dass die Postmoderne die sich Anfang der 1980er Jahre in der Bundesrepublik durchsetzte, nur zehn Jahre dauerte.

UD Dafür stehen die Villenbauten Egon Eiermanns in Baden-Baden unter Denkmalschutz und seine Möbel gelten als Klassiker.

GL Ja, sein Wohnhaus will niemand kaufen, weil nichts verändert werden darf. Eiermann ließ seine Studenten nicht nur Möbel, sondern auch Särge oder Latzhosen gestalten. Das hat geprägt. Die Möbel für meine erste Wohnung habe ich selbst entworfen und besitze heute noch Stühle aus dieser Zeit. 

UD Erinnern Sie sich an Ihre ersten Projekte im Architekturbüro Seemann?

GL Ja, das waren das Gymnasium in Eberbach, das Kongresshaus Baden-Baden und das Wellenbad Rappenwört in Karlsruhe. Ich habe in der Wettbewerbsabteilung gearbeitet.

UD Und wann kam Ihnen der Gedanke, sich selbständig zu machen?

GL Das ist eher einem Zufall zu verdanken. Ich war kein zielstrebiger Mensch und mit meiner Arbeitsstelle zufrieden. Am Wochenende fuhr ich nach Gengenbach, um Fußball zu spielen und wegen der hübschen „Vorbeck“-Schülerinnen. Da sprach mich eines Tages Charlie Peng an, so wurde Architekt Karl Suhm von allen genannt. Bürgermeister Erhard Schrempp hatte die Vision von einer Freizeitanlage „Schneckenmatt“ mit Stadthalle und Hallenbad, für die ein großer Architekturwettbewerb ausgeschrieben wurde. Suhm bat mich um Unterstützung und da ich nach einer Mandeloperation 14 Tage krank geschrieben war, sagte ich zu. Wir landeten auf dem vierten Platz. Bald darauf folgte eine Ausschreibung für die Grundschule „Krähenäckerle“ und ich übernahm die komplette Planung für Karl Suhm im Büro von Günther Seemann. „Wenn ich den Wettbewerb gewinne, mache ich mich selbständig“, unkte ich, denn ich glaubte nicht an einen Sieg. Mitte der 60er Jahre erlebte die Bundesrepublik ihre erste Rezession, die Steuereinnahmen gingen zurück und ich davon aus, dass die Stadt nicht in einen modernen, teueren Schulneubau investieren würde. 

UD Sie haben den ersten Preis gewonnen und sich sofort selbständig gemacht?

GL Der Wettbewerb war 1967 und am 9. Februar 1968 habe ich im eigenen Büro in der Gengenbacher Bahnhofstraße mit meinen Karlsruher Kumpels gefeiert. Das Gebäude war 1897 als Forstamt gebaut worden und ich nutzte es zur Hälfte als Büro und zur Hälfte als Wohnung.

UD Haben Sie damals alleine gearbeitet?

GL Ja und ich erinnere mich noch an den ersten Wettbewerb, den ich unter meinem Namen gewonnen habe: Das war die Grund- und Hauptschule mit Turnhalle in Offenburg-Weier. Es folgten eine Schule und ein Pfarrheim in Bad Rippoldsau-Schapbach. Mit der Zeit brauchte ich Unterstützung. Herbert Suhm hat für mich den Schreibkram erledigt und Harald Kerker, den ich vom Studium kannte, kam als Architekt. Später waren wir im Gengenbacher Büro ein Team von fünf bis zehn Leuten. 

UD Wann haben Sie Ihre Frau kennengelernt?

GL Das war 1969. Gerti hatte als Lehrerin in Rheinfelden gearbeitet und absolvierte am Fachseminar in Gengenbach, der „Strickschule“, wie sie despektierlich genannt wurde, eine zweite Ausbildung. Wir heirateten 1970, 1971 kam Gunnar zur Welt, 1974 Grischa.

UD Was waren Ihre beruflichen Projekte in den 70er Jahren?

GL Eines, über das ich ungern spreche, ist die „Volksbank“ im historischen Stadtkern von Gengenbach. Sie wurde abgerissen und nach altem Vorbild wieder aufgebaut. So hat man sich Denkmalschutz in den 1970er Jahren vorgestellt. Die einzige Neuerung waren die Arkaden, für die ich das Rathaus aus dem Jahr 1784 zum Vorbild genommen habe. Für einen Eiermann-Schüler war das eine Todsünde. Wir hatten eingetrichtert bekommen, Altes abzureißen und neu zu bauen, aber nicht im Sinne des Historismus!

UD Dafür hat Ihr modernes Wohnhaus mit Tanzstudio Stay 1974 für Furore gesorgt.

GL Und es galt Widerstände zu überwinden. Es gab einen Bebauungsplan für das Neubaugebiet in der Carl-Isenmann-Straße am Nollen in Gengenbach, dessen wesentliche Vorgaben ich eingehalten hatte, doch die Architektursprache meines Entwurfs war völlig ungewohnt und die Mitglieder des Gemeinderats und Bauausschusses schwer zu überzeugen. Künftige Anwohner protestierten gegen den Bau, weil sie angeblich Ruhestörung durch das Tanzstudio befürchteten, in Wirklichkeit ging es um das Erscheinungsbild.

UD Wie bewerten Sie das Beton-Haus im Rückblick?

GL Für mich ist das Stay-Haus noch immer ein sehr gutes Wohnhaus, in das ich auch heute einziehen würde. Nach knapp 45 Jahren befindet es sich fast noch im Original-Zustand. Das Atriumhaus ist von außen nicht einsehbar und verfügt über einen schönen, hellen Innenhof. Das Dach ist eine Holzkonstruktion aus zwei gegeneinander gestellten Pultdächern. Einzige Schwäche ist die unzureichende Dämmung. Darüber hat man sich damals keine Gedanken gemacht, der Liter Heizöl kostete acht Pfennige. 

UD Für sich und Ihre Familie bauten Sie zehn Jahre später ein Holzhaus. Wie kamen Sie vom Beton zum Holz?

GL In den 1980ern bestand eine allgemeine Aversion gegen Beton, er wurde regelrecht verteufelt. Ich wollte ein gesundes Haus bauen. Meine Frau Gerti hatte mich über das Thema gesunde Ernährung angesteckt und ich sagte: „Wir bauen ein Müsli-Haus.“ Holzhäuser an sich waren nichts Neues, doch bis dato wurden sorglos giftige Holzschutzmittel eingesetzt. Jetzt wurde erstmals biologisches Bauen thematisiert. Am Besten sollten nur Bäume verwendet werden, die im Dezember bei Vollmond geschlagen wurden. 

UD Das ist ein Witz, oder?

GL Nein. Im Winter ist das Wachstum unterbrochen und das Holz zieht kein Wasser mehr. Für mich war das konsequent. Zum einen kam ich aus einem Zimmererhaus, zum anderen hatte mein Freiburger Professor Schilli sich intensiv mit traditionellen Schwarzwaldhäusern befasst. Für unser Haus wurde kein Gramm Material verwendet, das aus synthetischen Stoffen bestand. Für das Mauerwerk kam Kalkmörtel, für die Fußböden Bienenwachs zum Einsatz. Aus heutiger Sicht war das sicher zu extrem.

UD Hatten Sie Ihr Vorbild Egon Eiermann aus den Augen verloren?

GL Nein, ganz im Gegenteil. Schließlich handelte es sich um einen konstruktiven Holzbau, der bis ins kleinste Detail den Vorstellungen Eiermanns entsprach. Nach dem gleichen Prinzip habe ich das „Forstliche Ausbildungszentrum Mattenhof“ und das Freibad in Gengenbach sowie das Bürgerhaus in Seelbach geplant, alles konstruktive Holzbauten. Die Haupt- und Realschule in Gengenbach, die zeitgleich entstand, ist ein Stahlbau. Von allen meinen Projekten hat es sicherlich den stärksten Bezug zu Eiermann. In den Vorlesungen hatte er 1965 einen Auftrag von der IBM Deutschland GmbH thematisiert: eine Planungsstudie für den Neubau einer Hauptverwaltung in Stuttgart. Das denkmalgeschützte Gebäudeensemble basiert auf einem Stahlrahmen mit Stahlbetonsockel. Die Gengenbacher Schule wollte ich unbedingt in Stahl. Ich konnte mich durchsetzen, da die Offenburger Firma Stahlbau Müller sozusagen vor Ort war, mehrfach für Egon Eiermann gearbeitet hatte und dieser das Verwaltungsgebäude von Müller entworfen hatte. Für mich war Stahlbau Müller ein toller Partner mit großem Know-how. Mittlerweile wurde die Schule allerdings saniert und sieht hässlich aus. 

UD Beton, Holz oder Stahl – was macht gute Architektur aus?

GL „Das Noble an der Architektur ist das Detail“, pflegte Egon Eiermann zu sagen. Der Anspruch, etwas Nobles zu machen, liegt im Handwerklichen. Ich halte es mit Mies van der Rohe, der befand: „Architektur muss stärker sein als die Funktion.“ Unser Büro auf dem Kulturforum war früher ein Dachstuhl. Die Konstruktion ist nicht nur ein notwendiges Übel, sondern muss formvollendet sein. Gute Architektur ist zeitlos. Die Arbeiten von Ludwig Mies van der Rohe, Le Corbusier und Frank Lloyd Wright haben Bestand.

UD Ihr Büro ist modern und in einem historischen Gebäude auf dem Offenburger Kulturforum untergebracht, das 1891 als kaiserliche Kaserne errichtet wurde. Wie war Ihre Herangehensweise an die Transformation des wilhelminischen Ensembles?

GL Als junger Architekt habe ich 1985 die Sommerakademie bei Karljosef Schattner in Eichstätt zum Thema „Bauen in historischer Umgebung“ besucht. Er engagierte damals international bekannte Architekten aus dem Tessin als Referenten, darunter Luigi Snozzi, bei dem mein Sohn Gunnar dreißig Jahre später an der EPFL in Lausanne studiert und in dessen Zweitbüro gearbeitet hat. Schattner forderte einen klaren und sensiblen Umgang zwischen Altem und Neuem und setzte Maßstäbe in der Architektur. Er war Vorsitzender des Preisgerichts für die Neugestaltung des Reichstags in Berlin, die Norman Foster umsetzte. Um- und Anbauten im Bestand habe ich bei ihm gelernt. Er war auch Preisrichter am Kulturforum. 

UD Egon Eiermann hat mit dem Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche neben der Ruine des alten Hauptturms ebenfalls neu und alt verbunden…

GL Ja, er musste sich nicht verstecken und Schattner hat sich gewiss an ihm orientiert. Ich habe als Student den Kirchenneubau am Breitscheidplatz ebenso verfolgt wie das Entstehen von Scharouns Neuer Philharmonie und später Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie in Tiergarten.

UD Gab es weitere Einflüsse?

GL Ein Vorbild und auch Vaterfigur war Professor Horst Linde von der Technischen Hochschule Stuttgart. Er verstand es, das Erbe vergangener Jahrhunderte behutsam mit der Moderne zu verbinden. Ich lernte ihn 1967 als Preisrichter für die Freizeitanlage „Schneckenmatt“ kennen und hielt bis zu seinem Tod 2016 einen engen Kontakt. Ich erinnere ein Mittagessen bei uns mit Horst Linde und Günther Seemann, meine Buben waren noch klein und saßen mit am Tisch. Linde hatte bei Seemanns Stiefvater Hans Detlev Rösiger studiert und erzählte von Zeiten, in denen im Büro noch Nachmittagstee getrunken und aus einem Buch vorgelesen wurde. Man konnte den Eindruck gewinnen, ein Architektenleben sei gemütlich.

UD Ist es nicht?

GL Da müssen Sie die Jungs fragen! Alle unsere Reisen, abgesehen vom Skiurlaub, wurden auf architektonisch interessante Ziele abgestimmt und die Kinder, als sie noch kleiner waren, mit Eis bestochen. Wir besuchten das Museum Abteiberg von Hans Hollein in Mönchengladbach, für dessen Planung erstmals eine schöne Aussicht und eine Cafeteria Bedeutung hatten. Es wurde zum Vorbild für Bauten von Richard Meier oder Renzo Piano. Das Louisiana Museum of Modern Art in Dänemark hat mich mit seinen modernen Anbauten an eine alte Patriziervilla ebenso beeindruckt. Zu unserem 25. Hochzeitstag fuhren Gerti und ich mit den Kindern nach Ronchamp, um die Kapelle Notre-Dame-du-Haut von Le Corbusier zu besichtigen. Ich war dort als Student Anfang der 60er Jahre und von der Stimmung des Innenraums beeindruckt gewesen.

UD Die äußere Form der Kapelle, die an ein Schiffsbug erinnert, entspricht keiner klaren Konstruktion im Sinne Eiermanns.

GL Nein, für mich ist das eine tolle Plastik. Das scheinbar schwebende Dach und das in den Raum gelenkte Licht sind imposant.

UD Ihre Frau teilt Ihre Liebe zur Architektur, wenn sie sogar Ihren Hochzeitstag mit Ihnen in Ronchamp verbringt?

GL Gerti habe ich es zu verdanken, dass diese fünf Jahrzehnte so gut gelungen sind. Sie war stets genauso interessiert wie ich, hat mir viele Freiheiten gelassen und mich beruflich immer unterstützt. Ich war ja dauernd unterwegs und kann mich überhaupt nicht erinnern, die Kinder erzogen zu haben. Sie ist noch heute der Chef zu Hause.

UD Seit 2011 leben Sie in Offenburg, bereits 1988 verlegten Sie Ihr Büro von Gengenbach nach Offenburg. Warum?

GL Zum einen lag mir das Thema Denkmalpflege in Gengenbach noch immer schwer im Magen. Wir haben damals den Winzerhof umgebaut und etwas Neues in den historischen Bestand einzufügen, galt als unmöglich. Zum anderen erhoffte ich mir neue Auftraggeber. Zu meinem 50. Geburtstag waren wir im neuen Büro in der Villa Simmler, die 1886 für den Maler und Bildhauer Franz Simmler errichtet worden war. Die Presse schrieb damals: „Lehmann flüchtet aus Gengenbach“.

UD War dem so?

GL Nein, natürlich nicht. Und bis vor wenigen Jahren war Gengenbach ja auch noch unser Lebensmittelpunkt. Erst in den 2000er Jahren haben wir uns mit Freunden für ein Bauherrenmodell in Offenburg entschieden.

UD Zu den Freunden zählt der Präsident des Deutschen Bundestags, Dr. Wolfgang Schäuble. Wie haben Sie sich kennengelernt?

GL Das war vor Jahrzehnten auf einem Parteitag in Sindelfingen. Wolfgang Schäuble war mit dem Zug aus Bonn gekommen und suchte eine Mitfahrgelegenheit nach Offenburg. 

UD In den 70er Jahren haben Sie sein Wohnhaus in Gengenbach gebaut.

GL Ja. Schäubles wohnten damals in einem Reihenhaus in Offenburg und er bat mich, auf der Suche nach einem Grundstück in der Ortenau behilflich zu sein. Ich wurde fündig in Gengenbach, wo in einem Jugendstilhaus in der Schwedenstraße zuletzt eine Tochter von Kurst Eisner gelebt hatte. Eisner war der erste Ministerpräsident des Freistaats Bayern, der 1919 infolge eines Attentats starb. Nach dem Mord flüchtete seine Frau Else, Tochter des Rammersweierers Joseph Belli, der in Zeiten der Sozialistengesetze sozialistische Literatur von der Schweiz nach Deutschland geschmuggelt hatte, mit den Kindern Freia und Ruth von Dorf zu Dorf, bis sie sich 1920 im „Haus an der Stirn“ in Gengenbach niederließen. 1933 emigrierte die Familie, Else nahm sich 1940 in Frankreich das Leben, Ruth studierte Medizin in der DDR und Freia kehrte 1948 nach Gengenbach zurück. Sie kam in einer Notunterkunft unter, da die Gestapo das so genannte Berghäusle 1939 beschlagnahmt und verkauft hatte. Erst 1961 konnte sie wieder einziehen und lebte dort bis zu ihrer Übersiedelung in die DDR 1975. Ich nahm mit einem Lörracher Anwalt, der das Anwesen verwaltete, Kontakt auf, doch es sollte nicht veräußert werden, so dass wir für Wolfgang Schäuble ein Alternativgrundstück suchten. 1981 meldete sich eben jener Anwalt bei mir, dass das Objekt nun doch zu verkaufen sei. Erst jetzt erfuhr ich, dass die Schwestern das Haus der Kommunistischen Partei vermacht hatten. Man stelle sich vor, Wolfgang Schäuble hätte es gekauft! Wir errichteten an dieser Stelle unser Holzhaus.

UD Nicht minder geschichtsträchtig ist das ehemalige Ihlenfeldareal und heutige Kulturforum in Offenburg, das wir bereits angesprochen haben. Wie kam es zu dem Auftrag?

GL 1993 hatte die Stadt Offenburg sechs internationale sowie nationale Büros eingeladen, sich an der Ausschreibung zu beteiligen. Auf dem ehemaligen Kasernengelände sollten 100.000 m³ umbauter Raum neu gestaltet werden. Unser Wettbewerbsteam entwickelte einen Entwurf, der 20 Prozent Neubauten vorsah. In Verbindungsgebäuden, die als Stahlbetonkonstruktionen mit Stahl-Glas-Fassaden entworfen wurden, sollte die Infrastruktur untergebracht werden. Bei den Bestandsgebäuden wurde die Erhaltung der denkmalgeschützten Außenfassaden vorgesehen. Die Reithalle, die einst als Exerzierhalle gedient hatte, war zwischenzeitlich umgebaut und als Lager genutzt worden. Wir planten, sie auf ihre ursprünglichen Maße zurückzuführen und Technik und Toilettenanlage in das Untergeschoss zu verlegen. Die Fenster waren eine Herausforderung, da trotz der angrenzenden, viel befahrenen Moltkestraße eine gute Akustik gewährleistet sein musste. Als Lösung sahen wir moderne Kastenfenster vor. In unserer Planung verzichteten wir radikal auf historisierende Formen und gewannen den ersten Preis. 

UD Das ist jetzt 25 Jahre her. Wie lange hat die Umgestaltung des Areals gedauert?

GL Baubeginn war 1994, der erste Bauabschnitt wurde 1997, der zweite im Jahr 2000 und der dritte und letzte 2007 fertiggestellt. Wir bezogen unser Büro 1997.

UD Die Konversion der ehemaligen französischen Kaserne war mit 48 Millionen Gesamtkosten das größte Hochbauprojekt der Stadt Offenburg in den vergangenen Jahrzehnten. Erfüllt Sie das mit Stolz?

GL So übel ist es gar nicht geworden. Grundsätzlich vertrete ich die Auffassung, dass man in einer Stadt in der Lage sein sollte, Gebäude ihrer Zeit zuzuordnen. Das ist uns auf dem Kulturforum gelungen. 

UD Ebenso erfolgreich haben Sie Ihre Nachfolge geregelt. Ihre Söhne Gunnar und Grischa haben beide Architektur studiert und gehören seit vielen Jahren dem Team von „Lehmann Architekten“ mit den Standorten Offenburg und Berlin an. Basiert diese glückliche Entwicklung auf väterlichem Druck oder freiem Willen?

GL Da fragen wir sie am besten selbst!