Gestern kam der Paketbote mit einem schweren Karton und es ist immer wieder aufregend, ein eigenes Buch auszupacken. Dieses liegt mir besonders am Herzen:
MEIN VATER UND DIE GUMMI-ENTE
Demenz. Angehörige erzählen.
Als mich der SingLiesel Verlag letzten Herbst anfragte, ein Buch über Demenz zu schreiben, begann ich mich einzulesen, Fachliteratur, Erfahrungsberichte, sah mir Dokumentationen und Spielfilme zu dem Thema an (weinte abends auf dem Sofa), sprach mit Freunden, Bekannten, Kollegen – und stellte fest: Nahezu jeder kennt jemand, der mit Demenz lebt. Der Partner, die Mutter, der Vater, die Oma, der Onkel, die Nachbarin… Jedes einzelne Schicksal ist eine Herausforderung – für die Betroffenen, deren Angehörige und unsere Gesellschaft. Demenz ist kein Tabu-Thema mehr, weil es Menschen gibt wie Hennig Scherf, den früheren Bremer Senator, der sich immer wieder in Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz einquartiert und sich für deren Belange stark macht, oder Michael Hagedorn, Fotograf und Mitinitiator von Konfetti im Kopf e.V., oder Tilman Jens, der ein Buch über seinen Vater, den Rhetoriker Walter Jens, geschrieben und sich damit breiter Kritik ausgesetzt hat, oder Purple Schulz, der statt "Verliebte Jungs" über Demenz singt… Nicht zu vergessen, David Sieveking, der den sehr berührenden Film "Vergiss mein nicht" über seine Mutter Gretel gedreht hat. Sie alle haben mit mir gesprochen, lange und ausführlich, weil es ihnen am Herzen liegt, dass Menschen mit Demenz in unserer Gesellschaft akzeptiert werden. Es war großartig, wie viele Freunde und Kollegen sich spontan bereit erklärt haben, mir ihre persönlichen Erfahrungen zu schildern, und jeder Betroffene weiß, wie schwer es ist, einen Menschen an das Vergessen zu verlieren. Umso schöner sind die Geschichten und Anekdoten, die mir erzählt wurden: Alltagsbegebenheiten, die zeigen, dass auch das Leben mit einem dementen Menschen bereichernd sein kann. Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wollen Mut machen: Wenn wir unsere Wahrnehmung ändern, so der Tenor, können wir gemeinsam noch eine wunderbare Zeit erleben!
Ich habe sehr viel gelernt und bin sehr dankbar für die Offenheit und das Vertrauen. Ich habe eine Freundin interviewt, die Menschen mit Demenz in der Schweiz betreut, meine Freunde im Elsass, Marc Felten und Mathieu Leonhard, dessen Vater in einem französischen Pflegeheim deutsche Marschlieder singt, eine Deutsch-Türkin, deren Mutter zweitausend Kilometer Luftlinie entfernt mit Demenz lebte, Nonnen, die ihre Mitschwestern betreuen, Fachkräfte für Gerontopsychiatrie, einen Herrn vom Europarat, Gerd Brederlow, Bruder des wunderbaren Schauspielers Bobby Brederlow, der plötzlich behauptet, der Eiffelturm stehe in München, und Paul Sahner, People-Journalist, der eine zauberhafte Geschichte über seine Mutter Elisabeth erzählt. Eines samstags traf ich bei Edeka an der Kasse Tessy Pavelová, wir kamen ins Gespräch und noch auf dem Parkplatz rief sie eine Freundin an, Raymona von Arnim, die wunderbar über ihre Mutter Wilma sprach und mir sagte: "Das Leben wird anders, weil man sich befasst, man langsamer wird und auch sich selbst anguckt."
Ihnen und allen anderen möchte ich danken und ich wünsche mir, dass das Buch "Mein Vater und die Gummi-Ente" vielen Leserinnen und Lesern ein bisschen Mut machen kann.
Ich hänge ein Kapitel aus dem Buch an. Pia Umbach habe ich in Karlsruhe getroffen, im "Matisse"-Zimmer des SingLiesel Verlags, eine aufgeschlossene, junge Frau, die so emphatisch und lebhaft von ihrer Familie und ihrem dementen Großvater erzählt hat, dass ich sie heute noch dafür drücken möchte.
Ticktack-Opa und sein Ninja-Schwert
Pia Embach ist 35 Jahre alt, Mutter von zwei kleinen Töchtern, und Enkelin von Opa Oskar, der demnächst 92 wird. Noch immer sind er und seine Frau Anni Mittelpunkt der Großfamilie, die sich einmal die Woche zum gemeinsamen Abendessen trifft. Obwohl Pia neunzig Kilometer zum Haus ihrer Großeltern fahren muss, packt sie ihre Mädchen jeden Donnerstag ins Auto und nimmt den langen Weg auf sich. Denn Donnerstag ist Ticktack-Opa-Tag.
Ticktack-Opa? Pia runzelte die Stirn und konnte sich zunächst überhaupt keinen Reim darauf machen, was ihre kleine Tochter damit meinte. Erst als das Kind mehrfach darauf beharrte, klingelte es plötzlich in Pias Kopf. Klar! Opa Oskar war der Uropa ihrer Mädels, das klingt wie Uhr und eine Uhr macht eben ticktack. Seitdem ist Oskar für Pias Kinder und die fünf anderen Urenkel der Ticktack-Opa und seine Frau Anni die Ticktack-Oma.
Zu Anni hatte Pia schon immer ein enges Verhältnis. Sie war die warmherzige Bilderbuch-Oma, indessen der Großvater für Reparaturen am Fahrrad zuständig war und stets ein wenig streng wirkte. Seitdem Oskar mit Alzheimer-Demenz lebt, fühlt sich Pia ihrer Großmutter noch mehr verbunden. "Unser Leben ist in vielen Situationen ähnlich", hat die Enkelin festgestellt. So wie ihre fünf- und zweijährigen Töchter von ihr erwarteten, dass sie ständig da sei, wolle der Opa, dass die Oma die ganze Zeit bei ihm sitze. Doch im Gegensatz zu ihm, der in seiner "zeitlosen Welt" lebe, organisiere Anni noch immer den Haushalt.
So steht sie zum Beispiel in der Küche, versunken in eine Arbeit an der Spüle, da schleicht Oskar sich an, leise wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, packt sie von hinten und kitzelt sie. Anni, die ihn nicht gehört hat, zuckt zusammen, schreit, rudert mit den Armen, ist so erschrocken und aufgeregt, dass sie das Gleichgewicht verliert, fällt auf ihren Mann, der hinter ihr steht, und reißt ihn mit zu Boden, so dass beide wie die Maikäfer, Arme und Beine in der Luft, auf den Küchenfliesen liegen. Oskar kichert vor Vergnügen, Anni ist wütend. Aufstehen können sie beide nicht. Zum Glück trägt sie ein Notrufarmband und kann Sohn und Schwiegertochter, Pias Eltern, verständigen, die im selben Haus wohnen.
Als Pia von dem Vorfall erfährt, muss sie lachen, glücklicherweise ist nichts Schlimmes dabei passiert, aber sie weiß, dass diese unbeschwerte Sichtweise nur ihr als Enkelin vorbehalten ist. "Es macht einen Unterschied, ob dein Vater oder dein Großvater betroffen ist", sagt sie.
Und erst recht, wenn es sich um den Urgroßvater handelt, den Ticktack-Opa. Er ist der Star für seine sechs Urenkel. Das Siebente und Jüngste ist mit sechs Monaten zwar noch zu klein, um den Unterhaltungswert von Oskar zu schätzen, für alle anderen sind die Donnerstagnachmittage, bevor die Erwachsenen zum Essen kommen, Showtime mit Opa. Wie ein Zirkusdirektor in der Manege thront er in seinem Sessel mitten im Wohnzimmer und dirigiert die fröhlich aufgeregte Schar. Die Kinder hängen an seinen Lippen, wenn er Anweisungen erteilt, wie die Decken für den Bau einer perfekten Höhle gefaltet werden müssen. Großzügig überlässt er die Greifhilfe seinen Anhängern, die sie, je nach Alter und Geschlecht, zum Hexenbesen für Bibi Blocksberg oder Ninja-Schwert umfunktionieren.
Zum Glück betritt Pia gerade das Zimmer, als Oskar, der viele Jahre lang Übungsleiter im Turnverein war, seinen Fans einen Purzelbaum demonstrieren will. Das Vorhaben muss vertagt werden und Ticktack-Opa tröstet seine Urenkel, indem er die offizielle Erlaubnis erteilt, gemeinsam die Süßigkeitenschublade zu plündern. "Ihm schmeckt fast nichts mehr außer Süßem", sagt Pia und zeigt Verständnis, wenn die "Zwerge" konspirativ verkünden: "Ticktack-Opa will noch ein Eis!" Logisch, dass die Kleinen auch eines bekommen. Zufrieden und erschöpft löffelt die eingeschworene Truppe ihr Eis und sieht dabei fern: Kinderprogramm, aber am liebsten "Hund, Katze, Maus".
"Keine Haare und keine Zähne verstehen sich gut", witzelt Pia und kann sich nicht erinnern, dass sie als Mädchen soviel Spaß mit ihrem Opa hatte. Mit fortschreitender Demenz sei er viel herzlicher geworden.
Das empfindet auch Oma Anni so. In ihren 68 Ehejahren mit Oskar war nie viel Zeit für große Gefühle. Er arbeitete als Werkzeugmeister, sie kümmerte sich um die vier Söhne, den Haushalt und den großen Garten. Wenn sie abends gemeinsam eine Volksmusiksendung ansahen, mokierte er sich immer über die romantischen Texte. Jetzt ist er es auf einmal, der ständig von der Liebe spricht. Manchmal sieht er sie an und sagt diese drei kleinen Wörter: "Ich liebe dich." Einfach so. "Noch nie in meinem ganzen Leben", sagt die 86-jährige Anni, "habe ich so viele Liebeserklärungen bekommen." Er, der ihr, die sich wegen Rückenproblemen nicht mehr bücken kann, täglich die Schnürsenkel bindet, sorgt sich um sie: "Wer macht das dann, wenn ich nicht mehr da bin?" Im Augenblick kommen die beiden noch ganz gut zurecht – mit Unterstützung eines Pflegediensts, fünfmal die Woche Essen auf Rädern, täglich schaut jemand aus der Familie vorbei.
Und dann gibt es ja die Donnerstage, die harmonischen Treffen von vier Generationen. In der warmen Jahreszeit kocht Pias Bruder draußen in der Sommerküche. Ticktack-Opa schiebt die Kinder auf seinem Rollator durch den Hof und singt lauthals "Tuff, Tuff, Tuff, die Eisenbahn…" Erholt er sich dann im Liegestuhl, planschen die Kleinen im Waschtrog und kreischen vor Vergnügen, wenn er sie mit der Gießkanne nass spritzt. Kommt Oma Anni vorbei, leuchten seine Augen und wie ein junger verliebter Bengel holt er mit der Kanne aus und lässt das ganze Wasser auf sie schwappen. "Ach", ziert sie sich erst, "meine Frisur! Ich hab' die Haare frisch gelegt." Doch als ihr Mann, die Kinder, Enkel und Urenkel lachen, kann auch sie nicht mehr ernst bleiben und stimmt fröhlich ein. "Die Familie fängt viel auf", ist Pia überzeugt und ihr ist bewusst: "Diese gemeinsame Zeit, die wir haben, ist ungeheuer kostbar."
Wie glücklich sich auch die Urenkel schätzen, belegt ein Schulaufsatz, den eine von Pias Nichten in der dritten Klasse verfasste: "Mein Opa", schrieb sie, "ist mindestens hundert Jahre alt oder noch älter. Er hat keine Haare mehr, aber dafür isst er immer viele Süßigkeiten mit uns."