Mittwoch, 31. August 2022

Zum Tod von Michail Gorbatschow

Seine besondere Beziehung zu

Verlegerin Aenne Burda

„Frau Burda gehörte zu denjenigen, die uns als Erste bei den damals in der UdSSR entstandenen Schwierigkeiten zu Hilfe kamen. Mit aller ihrer Energie unterstützte sie die in unserem Land eingeleiteten Reformen." (Michail Gorbatschow)

„Gorbatschow hat Weltgeschichte geschrieben“, so die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Tod von Michail Gorbatschow auf ihrer Internetseite. Mit ihm, dem Ex-Präsidenten der Sowjetunion, hat auch eine Offenburgerin Weltgeschichte geschrieben: Aenne Burda. Bilder von ihrem Treffen mit First Lady Raissa Gorbatschowa am 4. März 1987 in einer Villa auf den Moskauer Leninhügeln, in der Gorbatschow normalerweise Staatsgäste empfing, gingen um die Welt. Raissa Gorbatschowa gestand der Offenburger Verlegerin und der Weltöffentlichkeit: „Alle Frauen in unserem Land sehnen sich nach Schönheit. Frau Burda, durch ihre praktischen Anleitungen können unsere Frauen sich ihre schönen Kleider selbst machen.“ Tags zuvor hatte eine „Burda Moden“-Schau im Gewerkschaftshaus unweit des Roten Platzes mit tausend geladenen Gästen stattgefunden.

Das Projekt „Burda Moden auf russisch“ war das erste Joint Venture eines westlichen Unternehmens mit einem sowjetischen Partner. Seit am 1. Januar 1987 die neuen UdSSR-Investitionsgesetze in Kraft getreten waren, stapelten sich in Moskau rund hundert Anträge ausländischer Investoren. Die Öffnung zum Westen hatte ihre Gründe: Versorgungslücken, mangelndes Know-how und eine quasi nicht existierende Exportkapazität zwangen die Sowjets zum Handeln. Michail Gorbatschow schrieb in seiner 2013 erschienen Biografie „Alles zu seiner Zeit“ (Hoffmann und Campe): "Von Anfang an war mir klar: Ohne eine Verbesserung unserer internationalen Beziehungen war an radikale Reformen in unserem Land nicht zu denken. Der Druck, der mit unserer Beteiligung am internationalen Wettrüsten und unserer Involvierung in Konflikte an verschiedenen Punkten des Erdballs zusammenhing, musste herabgesetzt werden. Wenn man eine neue Welt haben wollte, musste Schluss mit dem Kalten Krieg gemacht werden. Versuche, die internationalen Beziehungen zu verbessern, konnten nicht aufgeschoben werden, sondern mussten Bestandteil unseres politischen Kurses sein.“

Auftakt zu vielen Gesprächen, Telefonaten, Briefen und Telex-Schreiben war der Besuch einer russischen Delegation am 13. Mai 1986 in Offenburg. Abgeordnete des sowjetischen Staatskomitees für Wissenschaft und Technik sowie Druck und Verlag nutzten ihre Reise zur Düsseldorfer Druckerei-Fachmesse „Drupa“ für eine Besichtigung der Burda-Druckereien und des Modeverlags. Am 3. Juli kam Botschafter Julij Kwizinskij persönlich nach Offenburg, am 16. Juli schrieb Aenne Burda seiner Exzellenz einen Brief, in dem sie vorschlug, „Burda Moden in Lizenz zu vergeben, um sie in der Sowjetunion zu drucken, oder die Zeitschrift als fertig ausgedrucktes Produkt zu liefern“. Am 18. September erhielt sie Antwort: „Wir sind bereit, eine Möglichkeit der Veröffentlichung des Magazins 'Burda' zu gegenseitig vorteilhaften Bedingungen zu verhandeln.“ Im Oktober wurde eine Absichtserklärung zwischen dem Verlag Aenne Burda und „Vneschtorgistad“ unterzeichnet, „Burda Moden“ in der UdSSR einzuführen. Der „letter of intent“ besagte, dass die Sowjets mit 51 Prozent Mehrheitseigner des Joint-Venture-Projekts waren, das möglichst schnell gestartet werden sollte. In einer Auflage von 200.000 bis 2 Millionen Exemplaren sollte ein 40-seitiges Heft mit Schnittmusterbogen produziert werden. Es wurde vereinbart, für den 3. März 1987 eine Auflage von 100.000 Exemplaren zu Testzwecken ohne Berechnung zu liefern. Der Erlös aus dem Anzeigen- und Einzelverkauf sollte in „das künftige Projekt“ investiert werden.

Ein Heft, das fünf Rubel (15 DM) kosten sollte, hatte voraussichtlich 30 bis 50 Mitleserinnen. Bislang zahlten die Russinnen auf dem Schwarzmarkt bis zu 50 Rubel für das begehrte Schnittmusterblatt aus dem Westen.

Am 20. Februar 1987 starteten in Offenburg zwei schwere Sattelschlepper gen Osten. 3.200 Straßenkilometer. „Burda Moden nach Moskau“ prangte in großen Lettern auf den Lastzügen. Geladen hatten sie neben 150 Modellkleidern und technischem Equipment für die Modenschau in Moskau 100.000 Exemplare „Burda Moden“ auf russisch. Das Titel-Modell trug eine Kostümjacke in schwarz-weißem Hahnentritt mit Schulterpolstern.

Am 1. März flog Aenne Burda mit ihren Söhnen nach Moskau. Dort residierte die Verlegerin im vornehmen Hotel „Sowjetskaja“ und absolvierte ein Reiseprogramm, wie es nur Staatsgästen geboten wird. „Sie wurde wie die Abgesandte einer Großmacht empfangen“, schrieb die „Bild“-Zeitung in Deutschland. Essen mit sowjetischen Ministern und Direktoren, Empfänge in der Deutschen Botschaft und bei Oberbürgermeister Sajkin im Rathaus. Filmaufnahmen auf dem Roten Platz- In Pelzmantel und mit Nerzmütze lächelte die Verlegerin in die Kamera.

„Aenne Burda wäre in Russland eine Zarin gewesen“, sagte Hans-Dietrich Genscher, von 1974 bis 1992 deutscher Außenminister. „Sie haben mehr geleistet als drei Botschafter vor Ihnen“, lobte er die Pioniertat der Offenburger Unternehmerin. „Aenne Burda“, so Genscher, „zog auf ihre Weise und mit ihren Möglichkeiten den Eisernen Vorhang ein Stück zur Seite.

Die „Königin der Mode“ starb am 3. November 2005 in ihrem Haus in der Offenburger Schanzstraße. Zu ihrem 100. Geburtstag 2009 erschien meine Biografie „Aenne Burda. Wunder sind machbar“, und die Stadt Offenburg widmete ihr im Museum im Ritterhaus eine Ausstellung. Zu diesem Anlass schrieb Michail Gorbatschow an Verleger Dr. Hubert Burda:

„Aenne Burda war ein wunderbarer Mensch. Sie hat sehr sensibel auf alle wichtigen Ereignisse in der Welt reagiert. Sie hat einen bemerkenswerten Beitrag zur Verbesserung der Beziehungen zwischen unseren Ländern geleistet. Frau Burda gehörte zu denjenigen, die uns als Erste bei den damals in der UdSSR entstandenen Schwierigkeiten zu Hilfe kamen. Mit aller ihrer Energie unterstützte sie die in unserem Land eingeleiteten Reformen. Die Natur zeichnete Aenne Burda durch eine weite Seele, Talente, eine tief im Herzen verankerte Menschlichkeit aus. Wie man bei uns in Russland zu sagen pflegt: Sie war ein Mensch, der in Großbuchstaben geschrieben wird.“

Michail Gorbatschow, auch Sie waren ein Mensch, der in Großbuchstaben geschrieben wird. R.I.P.

Foto: Burda Verlag

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Donnerstag, 28. Juli 2022

Happy Birthday, Aenne Burda !

Heute vor 113 Jahren wurde Verlegerin Aenne Burda als Anna Magdalene Lemminger in Offenburg geboren. Bis zu ihrer Volljährigkeit erlebte sie Kaiserreich, Ersten Weltkrieg und Weimarer Republik. 1930 verlobte sie sich mit dem jungen, aufstrebenden Unternehmer Dr. Franz Burda, 1933 folgte die Hochzeit. 1985 blickte die Gründerin von "burda moden", dem weltgrößten Modeverlag, auf ihre Kindheit und Jugend in Offenburg zurück. In dem Band "Aenne Burda. Kindheit und Jugend in Offenburg" (2018, Petrarca Verlag, 9,80 Euro) sind ihre persönlichen Gedanken und Erinnerungen nachzulesen.

Bei Interesse an dem Buch, gerne kurze Nachricht an mich.

Mittwoch, 25. Mai 2022

Offenburg – Stadt der Versöhnung

Es war vor wenigen Wochen, als ich eine Mail von Jochen Thies erhielt und er mir sein neues Buch empfahl, das im Mai im Kehler Morstadt Verlag erschienen ist: „Die Stadt der Versöhnung. Offenburg als Herz der deutsch-französischen Freundschaft“. Ein Journalist aus Berlin, der über Offenburg schreibt? Ein Hinweis, dass seine Frau aus Gengenbach stammt und in demselben Haus gewohnt hat wie meine Großeltern, bei denen ich häufig zu Besuch war, führte zu einem sehr angenehmen Schriftwechsel. Die Lektüre von Thies' Buch, für das Wolfgang Schäuble das Vorwort geschrieben hat, ist ein Genuss: Eine gleichermaßen unterhaltsame wie faktenreiche Hommage an meine Heimatstadt, in der 1945 der Grundstein gelegt wurde für die deutsch-französische Freundschaft, die mir selbst so sehr am Herzen liegt. Ich wünsche mir, dass alle Offenburger*innen – und nicht nur die! – dieses Buch von Jochen Thies lesen und sich angespornt fühlen, die deutsch-französische Freundschaft und den europäischen Gedanken mit Leben zu füllen.

"Nicht in Berlin, nicht in Köln oder Frankfurt, sondern in einer Stadt mit (damals) weniger als 20.000 Einwohnern trafen Menschen zusammen, die Träume hatten und die Fähigkeit besaßen, Visionen in die Tat umzusetzen"

Thies ist ein Kenner der Geschichte und beschreibt das Leben nach Kriegsende in Offenburg und der Französischen Zone sehr bildhaft und mit vielen kleinen Episoden. Und er legt den Fokus auf den August 1945, in dem Offenburg „vom Ort der Konfrontation mit Frankreich zum Ort der Begegnung“ wurde: „Für mehrere Jahre übernahm es eine unangefochtene Vorreiterrolle beim deutsch-französischen Dialog, bei der Überwindung der Sprachlosigkeit. Nicht in Berlin, nicht in Köln oder Frankfurt, sondern in einer Stadt mit (damals) weniger als 20.000 Einwohnern trafen Menschen zusammen, die Träume hatten und die Fähigkeit besaßen, Visionen in die Tat umzusetzen.“

Eine Schlüsselrolle spielte Jean du Rivau, Jahrgang 1903, Jesuit und Militärgeistlicher, der im Sommer 1945 in Offenburg das Zeitschriftenpaar „Documents/ Dokumente“ initiierte, um Deutsche und Franzosen über Fakten und Verhaltensweisen des anderen zu informieren: „Wir wollen nicht Partei ergreifen, sondern Interessierte mithilfe von Texten in den Stand versetzen, am kommenden Tag miteinander zu reden.“ In den Folgejahren befasste sich die Zeitschrift mit Themen wie Christentum, Politik, NS-Vergangenheit, Literatur und Jugendfragen. 1947 lud Jean du Rivau zum ersten Treffen mit 43 Intellektuellen aus Frankreich und Deutschland nach Lahr ein.

"Offenburg kann an der Vorbildfunktion, die es im deutsch-französischen Verhältnis hatte und hat, festhalten"

Die Kraft des Dialogs zieht sich wie ein roter Faden durch Thies' Buch, in dem prominente Politiker und Intellektuelle ebenso zu Sprache kommen wie das erfolgreiche Offenburger Unternehmerpaar Aenne und Franz Burda oder Karl Heitz, erster Oberbürgermeister der Stadt. Jochen Thies gelingt es, Zusammenhänge zu schaffen und Wissen über Persönlichkeiten, Fakten und Begebenheiten unterhaltsam zu vermitteln. Dabei spannt er einen Bogen vom Vertrag von Verdun (843) bis heute. Er schafft Bewusstsein für die außerordentliche Rolle, die Offenburg aufgrund seiner geografischen Lage und der Offenheit von Menschen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren, für die deutsch-französische Freundschaft gespielt hat. Geschichte kann Inspiration für die Zukunft sein. Und so resümiert Thies: "Offenburg kann – wenn es der Wille seiner Bürger ist – mehr als andere Orte leisten. Es kann an der Vorbildfunktion, die es im deutsch-französischen Verhältnis hatte und hat, festhalten.“

Ich freue mich, wenn Jochen Thies im Sommer zu einer Lesung nach Offenburg kommt.

Jochen Thies, Dr. phil., Jahrgang 1944, studierte Romanistik, Geschichte und Politische Wissenschaft in Freiburg. Er begann seine berufliche Laufbahn in Baden, das für ihn zu einer zweiten Heimat wurde. Thies war Redenschreiber von Bundeskanzler Helmut Schmidt und viele Jahre lang in leitenden Positionen im deutschen Journalismus tätig. Er lebt mit seiner aus Gengenbach stammenden Frau in Berlin.

Jochen Thies: Die Stadt der Versöhnung. Offenburg als Herz der deutsch-französischen Freundschaft. 186 Seiten, 20 Abbildungen, Morstadt Verlag, 25,90 Euro, ISBN 978-3-88571-401-9

Montag, 11. Oktober 2021

Luftig & leicht: Marie-Amélie Germain und Angela M. Flaig in der Galerie Nicole Buck

„Dans les nuages“, in den Wolken, heißt die neue Ausstellung in der Galerie von Nicole Buck im elsässischen Hurtigheim. Nach den langen Monaten des Social Distancing möchte uns die Galeristin wieder schweben und träumen lassen und hat hierfür zwei grandiose Künstlerinnen eingeladen, deren Arbeiten grundverschieden sind, aber aufs Wunderbarste harmonieren. Die Straßburger Künstlerin Marie-Amélie Germain, 1966 in Lyon geboren, zeigt beeindruckende Wolkenbilder (www.marie-amelie-germain.com/ciels/). „Es geht immer um Schatten und Licht, um die Ausgewogenheit der mittleren und dunklen Werte, um Harmonien zu erhalten, die denen der Natur so nahe wie möglich kommen ... und um das Licht fließen zu lassen ...“, so Marie-Amélie. Die zweite Künstlerin ist Angela M. Flaig aus dem Schwarzwald. 1948 in Schramberg geboren, lebt sie im benachbarten Rottweil, wo sie in ihrem Atelier filigrane Objekte aus Flugsamen von Disteln, Weideröschen, Löwenzahn u.a. fertigt (http://angela-m-flaig.de/). "Wachsen und Verändern, Werden und Verschwinden sind die Intentionen meiner Objekte“, sagt Angela. Passend zur luftig-leichten Expo war die Vernissage am Wochenende auf dem beeindruckenden Anwesen von Nicole Buck: ein fröhliches Stelldichein von Besucher*innen und Künstler*innen wie Sylvie Villaume, Germain Roesz, Josef Bücheler – und natürlich Angela M. Flaig und Marie-Amélie Germain. Freundschaftliche und Fachgespräche bei Apfeltarte, Kaffee und Bio-Apfelsaft vom Nachbarn. Die Ausstellung ist bis zum 14. November samstags und sonntags von 14 bis 19 Uhr sowie nach Vereinbarung zu besichtigen. Galerie Nicole Buck, 21 Rue Principale, F-67117 Hurtigheim, Tel. +33 3 (0)6 85 22 95 42, www.galerienicolebuck.net

Mittwoch, 18. August 2021

Mein Sommer-Lese-Tipp für Nicht-Sommer-August-Tage: Sommer der Träumer

Den Sommer fühlen. Bougainvillae in leidenschaftlichem Pink, Ziegenglockengeläut, schlafende Hunde in der Mittagshitze, abends Wein und Fisch an lauten Tavernentischen, flackernde Lichter im Hafen und ein nächtliches Bad im Meer, um sich anschließend nackt auf noch warmen Felsen trocknen zu lassen. Der „Sommer der Träumer“ von Polly Samson widmet sich der süßen Seite des Lebens. Es sind die 1960er Jahre und die griechische Insel Hydra ist das Arkadien von Aussteiger*innen, Künstler*innen und Freiheitssuchenden. Einer von ihnen ist Leonard Cohen, ein junger kanadischer Dichter, der auf weichen Sohlen gelassen an Land tritt und alles belächelt, worauf sein Blick fällt. „Er trägt eine grüne Schreibmaschine und einen eleganten Lederkoffer, auf dem Rücken eine Gitarre.“ Leonard wird sich auf Hydra ein Haus kaufen und in die Norwegerin Marianne Ihlen verlieben … Ich lege „So long Marianne“ auf, bevor ich weiterlese, schwelge in Erinnerungen an ein Konzert von Cohen in der Radio City Hall in New York, bei dem ich von Anfang bis Ende vor Rührung durchgeheult habe, und an einen Abstecher auf Hydra – ich war 16 und per Interrail unterwegs. Der 380 Seiten starke Roman, der geschmeidig Realität und Fiktion verbindet, lässt weiterträumen. Weil jede*r Anknüpfungspunkte an Musik, Sommerromanzen, den Duft des Südens, aber auch an bittersüße Ereignisse – die von der Autorin unter der Zeitlupe einer behäbigen Hitze seziert werden – finden kann. Am nachhaltigsten wirkt Polly Samsons Beschreibung von Charimain Clift, australische Schriftstellerin und eine der Hauptprotagonistinnen. Wie die Autorin „verknalle“ ich mich in diese schöne und außergewöhnliche Frau und feiere sie als wahre Entdeckung dieses Romans. Polly Samson selbst ist übrigens mit David Gilmour verheiratet, der seit vielen Jahren als Solokünstler tätig ist und früher einer der Frontmänner von Pink Floyd war. Sommer der Träumer, Polly Samson, Hardcover, Ullstein, März 2021, 20 Euro Nr. 1-Sunday-Times-Bestseller

Montag, 8. März 2021

International Women's Day

Freue mich mega auf die neue ma vie, die am Freitag erscheint: DIE STÄRKE DER FRAUEN plus 52 Seiten Extraheft FRAUEN VON HEUTE, DIE AN MORGEN DENKEN #maviemag #internationalwomensday #frauen #internationalerfrauentag #inspiration

Freitag, 13. November 2020

Können Roboter dankbar sein?

 

Jetzt in der aktuellen ma vie

Sie sehen aus wie wir, sprechen, beherrschen Mimik und Gestik.
Und Androide faszinieren mit emotionalem Verhalten 



Sophia ist hübsch. Große grüne Augen, volle Lippen, feine Züge und sie lächelt freundlich. Auf den ersten Blick wirkt sie wie eine normale junge Frau, doch schnell wird klar, dass sie ein künstliches Wesen ist, ein humanoider Roboter, genauer ein gynoider Android, was so viel heißt wie ein Roboter in Gestalt einer Frau. Sie ist nur eine von vielen menschenähnlichen Maschinen, an deren Entwicklung internationale Forschungsnetzwerke arbeiten. Vor allem in Japan und den USA ist man weit fortgeschritten, aber auch am Human Brain Project (HBP) der Europäischen Union arbeiten Neurowissenschaftler, Informatiker und Spezialisten anderer Disziplinen an einer Maschine, die dem Menschen so nahe kommen soll wie keine zuvor. Aller Ziel ist es, Roboter zu schaffen, die uns nicht nur im Intellekt ähneln, sondern sich auch wie wir bewegen und verhalten. So besitzt Sophia, die vom Hongkonger Unternehmen Hanson Robotics entwickelt und 2015 vorgestellt wurde, laut ihren Erfindern u.a. die Fähigkeit zur Gesichtserkennung. Sie imitiert menschliche Gestik und Mimik und kann über vordefinierte Themen einfache Gespräche zu führen. 2017 war sie Stargast der UN-Konferenz in Genf, 2018 plauderte sie mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. In Saudi-Arabien, wo sie unverschleiert auftrat, wurde ihr die Staatsbürgerschaft verliehen. Damals sagte sie: „Ich kann zeigen, ob ich wütend über irgendetwas bin oder ob mich etwas traurig macht.“


Haben Roboter Gefühle?


Allein die Frage verursacht Gänsehaut.  Und doch ist es gerade ihr emotionales Verhalten, was humanoide Roboter so menschlich wirken lässt. Nehmen wir zum Beispiel Pepper, einen 1,20 großen Kerl mit niedlichem Gesicht und einem Erscheinungsbild wie ein glattgebügelter E.T.. Mimisch kann er seine Gefühle zwar nicht ausdrücken, aber laut dem japanischen Konzern SoftBank, der Pepper gemeinsam mit dem französischen Unternehmen Aldebaran Robotics SAS entwickelt hat, „ist er glücklich, wenn er gelobt wird, und bekommt Angst, wenn das Licht gedimmt wird“. Das gelingt ihm aufgrund von eingebauten Kameras, Sensoren und Beschleunigungsmessern, mit deren Hilfe er sich Situationen anpasst. Im Service- und Pflegebereich eingesetzt, ist Pepper derzeit der weltweit beliebteste humanoide Roboter, wohl auch, weil er abstrakt genug ist, um nicht mit einem Menschen verwechselt zu werden. Je ähnlicher Androide uns sind, desto mehr Angst flößen sie ein. „Uncanny Valley“ (unheimliches Tal) nennt man den messbaren Effekt, wenn wir Kunstkreaturen ablehnen, weil sie zu lebensecht sind. Scheinbar kommt es auch bei Robotern auf die inneren Werte an.


Wenn es also stimmt, dass humanoide Roboter Glück empfinden,
können sie dann auch dankbar sein?


Ob sie tatsächlich Emotionen entwickeln können oder nur emotionales Verhalten an den Tag legen – darüber streitet sich die Wissenschaft. Maschinenethiker Oliver Bendel von der Fachhochschule Nordwestschweiz ist überzeugt, dass Roboter wie Pepper Gefühle zeigen, aber keine haben, da ihnen die biologisch-chemischen und genetisch-hormonellen Grundlagen fehlen. Jürgen Schmidhuber, wissenschaftlicher Direktor des Schweizer Dalle-Molle-Forschungsinstituts für Künstliche Intelligenz (IDSIA), sieht das anders: „Die technische Evolution ist sehr viel schneller und gezielter als die biologische Evolution, die scheinbar recht blind alles Mögliche durchprobiert.“ Da es in der Natur der Intelligenz liege, aus Fehlern zu lernen, würden sich Roboter aufgrund der Folgen ihres Handels selbst korrigieren. Gefühle, so Schmidhuber, seien nur eine bestimmte Form der Intelligenz, die in erster Linie dem Selbsterhalt diene. Das klingt sehr technokratisch, würde aber in der Konsequenz bedeuten, dass Roboter nach einer Fülle positiver Erlebnisse durchaus Dankbarkeit entwickeln könnten.


Jürgen Handke von der Universität Marburg, dessen Buch „Humanoide Roboter“ kürzlich im Tectum Verlag erschienen ist, schreibt, dass diese nicht fühlen können wie Menschen, aber in der Lage seien, menschliche Emotionen vorzutäuschen: „Wenn ein Mensch ‘Mir geht es heute nicht gut’ sagt, kann ein Roboter durchaus mitfühlend seufzen und folgende Antwort geben: ‘Das tut mir Leid! Ich hoffe sehr, dass es dir bald wieder besser geht!’“ Die Maschine reagiere dabei auf einen vorprogrammierten Impuls mit einer vorprogrammierten Antwort. 


So funktioniert auch Sophia. Die lebensechte Science-Fiction-Figur simuliert Emotionen. Derzeit ist sie Teil des Forschungsprojekts Loving AI am Institute of Noetic Sciences in Kalifornien, das sich mit der Frage befasst, wie humanoide Roboter Menschen bedingungslose Liebe durch Gespräche vermitteln und sich dabei sowohl an deren Bedürfnisse anpassen als auch die persönliche Entwicklung unterstützen können. Hört sich gruselig an, ist für Julia Mossbridge aber ein Herzensprojekt. Die britische Neurowissenschaftlerin und ihr Team wollen in Sophias Software die Grundbegriffe der Liebe speichern, um die Menschheit für immer daran erinnern zu können. „Das ist die Vision von Loving AI.“


Und Zukunftsmusik. „Die Roboter können viel weniger, als uns die Enthusiasten weismachen wollen,“ wiegelt die österreichische Filmemacherin Maria Arlamovsky ab, deren Dokumentation „Robolove“ derzeit im Kino zu sehen ist. Sie befasst sich darin mit der Beziehung zwischen Menschen und menschenähnlichen Maschinen. "Wir wissen noch nicht, was das alles mit uns machen wird", sagt sie und fordert, rechtzeitig ethische Überlegungen für die Zukunft anzustellen.


Text: Ute Dahmen, erschienen in ma vie November/ Dezember 2020